Trotz Solidarpakt

Warum der Osten nicht aufschließt

von Leonhard Eckwert, Thilko Gläßgen, Patrick Klapetz
und Inka Zimmermann

30 Jahre Mauerfall - das bedeutet auch: fast 30 Jahre Wirtschaftshilfen aus dem „Westen“ für den „Osten“. Was haben die Gelder gebracht? - Schöne Autobahnen und Innenstädte, so das Klischee. Tatsächlich war die Verbesserung der Infrastruktur in den ostdeutschen Ländern eines der Kernziele der Finanzhilfen. Zusätzlich sollte in Wirtschaft und Forschung investiert werden, um den neuen Bundesländern das Anknüpfen an westdeutsche Standards zu ermöglichen.

Ende 2019 sind diese Hilfsmaßnahmen offiziell abgeschlossen. Und jetzt? An wirtschaftlichen Kennzahlen wie Finanzkraft und Verschuldung, aber auch der Bildungs- und Arbeitswanderung sowie Entwicklungen im Bereich Forschung lässt sich ablesen, was die Gelder gebracht haben - und auch, wo die neuen Bundesländer immer noch hinter dem Westen liegen.

Bedeutet das Ende dieser sogenannten „Aufbau Ost“ Maßnahmen, dass keine Gelder mehr vom Westen in den Osten fließen? Und muss dann kein „Soli“ mehr mit der Einkommenssteuer gezahlt werden? Beides Irrtümer. Es gilt, zwischen Solidaritätszuschlag, Länderfinanzausgleich und Solidarpakt zu unterscheiden.

Was bedeutet...

...Aufbau Ost?

Das Ziel von Aufbau Ost war die Angleichung der Lebensbedingung und der wirtschaftlichen Kraft Ostdeutschlands an den Westen. Dazu wurden insbesondere Transferleistungen als wirtschaftspolitische Maßnahmen genutzt. Im Zeitraum von 1994-2019 gab es dafür drei Förderprogramme: Der Fonds Deutsche Einheit sowie die Solidarpakte I und II. Ihr Gesamtumfang beträgt etwa 328 Milliarden Euro. Offiziell ist der Aufbau Ost ab 2020 abgeschlossen.

...Solidaritätszuschlag?

Seit dem 1. Januar 1995 wird der Solidaritätszuschlag, kurz „Soli“, dauerhaft bei der Einkommens- und Körperschaftssteuer erhoben. Die jährlichen Einnahmen aus dem Zuschlag liegen zwischen zehn und 18 Milliarden Euro. Dabei gehen alle Einnahmen der Steuer an die Bundesregierung, wo sie ohne Zweckbindung in alle Bereiche investiert werden können. Der Solidaritätszuschlag wird also in Ost- und Westdeutschland erhoben. Die Gründe für die Einführung des Solis waren neben der Finanzierung der deutschen Einheit auch finanzielle Unterstützung Verbündeter im zweiten Golfkrieg. Fälschlicherweise wird diese Abgabe oft mit dem Solidarpakt gleichgesetzt.

...Länderfinanzausgleich?

Als Länderfinanzausgleich im engeren Sinne wird der Ausgleich zwischen finanzstarken und -schwachen Ländern bezeichnet. Das Ziel ist die Angleichung der Finanzkraft aller Länder, wodurch vor allem Bundesländer mit geringen Haushaltsmitteln profitieren. Dabei ist ein Rollenwechsel möglich: Das aktuell größte Geberland Bayern war selbst von 1950 bis 1987 Empfänger von Transferleistungen durch andere Länder.


...Solidarpakt?

Der Solidarpakt ist eine Maßnahme des Bundes zur Förderung der ostdeutschen Bundesländer. Im Solidarpakt I wurden von 1995 bis 2004 insgesamt 90 Milliarden ausgezahlt, der Solidarpakt II hatte einen Gesamtumfang von 161 Milliarden Euro und läuft von 2005 bis 2019. Ihre Zielsetzung ist die im Aufbau Ost formulierte Beseitigung von teilungsbedingten Rückständen bei der Infrastruktur sowie der Ausgleich der schwächeren kommunalen Finanzkraft der neuen Bundesländer gegenüber den Alten. Die vom Bund gezahlten Mittel sind nicht zweckgebunden und wurden unterschiedlich eingesetzt wie beispielsweise zum Schuldenabbau oder Infrastrukturinvestitionen. Mit dem offiziellen Ende des Aufbau Ost wird es auch keinen Solidarpakt III geben.

Vier Wirtschaftsfaktoren, die zeigen, ob der „Aufbau Ost“ erfolgreich war


In den letzten 30 Jahren hat das Förderprogramm Aufbau Ost die neuen Bundesländer unterstützt. Wohin die Gelder genau geflossen sind, lässt sich schwer nachvollziehen, weil die Länder die Gelder eigenmächtig investieren dürfen und lediglich eingeschränkt über den Mitteleinsatz Auskunft geben müssen. An den Veränderungen wirtschaftlicher Kennzahlen im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte lässt sich allerdings ablesen, ob und wo die Gelder die gewünschte Wirkung hatten.

Berlin

Die Hauptstadt hat eine Sonderrolle inne. Durch die Teilung der Stadt hatte Berlin zwei Wirtschaftszonen und ist besonders von Kosten der Wiedervereinigung betroffen. In amtlichen Statistiken wird die Stadt unterschiedlich zugeordnet oder gar nicht erst genannt. Daher ist Berlin nicht Teil der folgenden Analysen.

Finanzkraft


Die Finanzkraft ist die Summe aller Einnahmen eines Bundeslandes, zuzüglich 64 Prozent der Steuereinnahmen seiner Kommunen. Sie zeigt, ob ein Land selbst in der Lage ist, Einnahmen zu erzielen, also eigenständig ist oder ob es auf finanzielle Unterstützung angewiesen ist. Unmittelbar nach dem Mauerfall lag die Finanzkraft auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bei nur 30 Prozent verglichen mit dem der BRD. Ab der Wiedervereinigung wuchs die ostdeutsche Finanzkraft fünf Jahre lang sehr stark. In der Folge verringerte sich auch der Abstand der Finanzkraft der Regionen im wiedervereinigten Deutschland. Seit Ende der 90er-Jahre ist das Wachstum der Finanzkraft zwischen Ost und West nahezu angeglichen.

Finanzkrisen wie Anfang der 2000er und 2008/09 spürten Ost und West gleichermaßen - diese erklären die negativen Ausschläge. In den letzten Jahren liegt die Finanzkraft Ostdeutschlands konstant auf etwa 70 Prozent des West-Niveaus. Ein Aufholen findet kaum mehr statt. Stattdessen verharren beide auf ihrem Level.

Verschuldung


Dem Osten ist es in den letzten Jahren gelungen, Schulden zu reduzieren: Die Pro-Kopf-Verschuldung eines Bundeslandes sagt aus, wie viel jeder Einwohner zahlen müsste, um die Schulden des Landes auf einmal zu tilgen. Nachdem die neuen Bundesländer bis in die 2000er hinein neue Schulden aufgenommen haben, ist es in den letzten Jahren allen - und vor allem Sachsen - gelungen, Schulden abzubauen. Damit ist Sachsen mittlerweile sogar weniger verschuldet als Bayern, das unter den westdeutschen Bundesländern mit 2.339 Euro Schulden pro Kopf (Stand: 2017) am besten dasteht. Insgesamt liegen die neuen Bundesländer alle weit unter dem westdeutschen Durchschnitt.


Viele Landesregierungen arbeiten derzeit an der Entschuldung. Dabei sind derartige Maßnahmen umstritten: Gerade in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums kann es sinnvoll sein, Investitionen zu tätigen und sich dafür zu verschulden. Schuldenabbau alleine ist zwar ein gutes Zeichen, kann aber keineswegs als alleiniger Indikator für die wirtschaftliche Lage eines Landes dienen.

Für die neuen Länder ergibt sich dennoch ein Vorteil: Ab 2020 darf kein deutsches Bundesland mehr neue Schulden aufnehmen - so sieht es die 2016 beschlossene Schuldenbremse vor. Vielen westdeutschen Bundesländern dürfte das bedeutend schwerer fallen als Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt.

Bildungs- und Arbeitswanderung


Massenabwanderung aus dem Osten gab es insbesondere direkt nach dem Mauerfall. Damals zog es einen von drei Berufstätigen aus der ehemaligen DDR in ein anderes Bundesland. Hinsichtlich der Bildungswanderung war das Problem sogar noch gravierender: Zeitweise sah fast jeder zweite eine bessere Zukunft in einem anderen Bundesland. Der sogenannte Brain-Drain, also die Abwanderung von Facharbeitern und Akademikern, traf die neuen Bundesländer besonders hart.


Mitte der 2000er ist die Situation entschärft: Sachsen profitiert besonders durch seine Universitätsstädte Dresden und Leipzig von zuziehenden Studierenden aus ganz Deutschland, aber auch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern konnten ihre Abwanderung verringern. Trotzdem zog es 2015 fast jeden sechsten Mecklenburger für die Arbeit in ein anderes Bundesland.


Personal in Forschung und Entwicklung


Forschung und Entwicklung können den wirtschaftlichen Aufschwung eines Bundeslandes maßgeblich beeinflussen. Insbesondere forschungsintensive Industrien - wie Erneuerbare Energien - beruhen auf einem Wissenstransfer von Hochschulen in die Praxis.

Die dargestellten Zahlen beziehen sich daher nicht direkt auf das klassische Hochschulpersonal, sondern auf sogenannte An-Institute, die enger mit der Industrie vernetzt sind. Hierzu gehört zum Beispiel das Institut für Implantat-Technologien und Biomaterialien an der Universität Rostock.

Die ostdeutschen Bundesländer liegen mit der Anzahl ihrer Beschäftigten in wissenschaftlichen Einrichtungen bereits seit 1995 im Mittelfeld. In allen Bundesländern sind seitdem mehr Menschen in Forschung und Entwicklung beschäftigt. Eine besonders positive Entwicklung zeigt sich in Sachsen: Die Anzahl der Vollzeitäquivalente hat sich bis zum Jahr 2019 verdoppelt. Die gute Wirtschaftslage des Freistaats unterstützt Investitionen in Forschung und Entwicklung.

Finanzkraft, Verschuldung, Arbeitswanderung und Forschungspersonal - die Daten zeigen, dass die neuen Bundesländer deutlich aufgeholt haben. An Westniveau kann der Osten aber oft noch nicht anschließen - ist das nur eine Frage der Zeit? Nicht ganz: Der Ökonom Philipp Glinka vermutet, dass es vielmehr zu einer Versteigung der Lücke zwischen Ost und West kommen wird.

Der Osten hat aufgeholt - Westniveau wird er aber kaum erreichen

Philipp Glinka forscht an der Universität Leipzig zu den Bund-Länder Finanzbeziehungen. Für ihn hat der Aufbau Ost wichtige Erfolge erzielt: „Wenn man sich die Innenstädte in den ostdeutschen Regionen ansieht oder die Verkehrsinfrastruktur, dann kann man sagen: Hier ist der Aufbau gelungen.” Eine beachtliche Verbesserung - immerhin lag 1990 die Infrastruktur in Ostdeutschland deutlich unter dem Westniveau. Insgesamt bewertet Glinka den Aufbau Ost ambivalent: Ein enormer Aufholprozess sei geschafft, mittlerweile aber Stagnation eingetreten. Vollends aufgeschlossen habe der Osten nicht.

Ostdeutschland ist immer noch abhängig vom Westen

Kritisiert werden könne, dass 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch eine deutliche Abhängigkeit der neuen Bundesländer von der föderalen Solidargemeinschaft bestehe, findet Glinka. „Das liegt in erster Linie daran, dass es nicht gelungen ist, die Wirtschaftsstrukturen hier so zu verändern, dass die Finanzkraft aus eigener Kraft hoch genug ist und die Abhängigkeit von der Solidargemeinschaft sinkt.” Ein Beispiel: Es gibt in Ostdeutschland immer noch kein einziges Dax-Unternehmen. Viele Unternehmen eröffnen Standorte in den neuen Bundesländern, aber meist bleibt die Zentrale des Unternehmens im Westen. Im Osten findet lediglich die Fertigung statt - man spricht von verlängerten Werkbänken. Das wirkt sich stark auf die Steuereinnahmen eines Landes aus.

Entscheidender Faktor: der demografische Wandel

Wie werden sich die neuen Bundesländer in den kommenden Jahren entwickeln? Künftig wird besonders ein Faktor eine wichtige Rolle spielen: der demografische Wandel. Es muss gelingen, den Bevölkerungsrückgang und die Überalterung - zwei Faktoren, die im Osten besonders ausgeprägt sind - abzumildern, sagt Glinka. Der demografische Wandel ist aus zwei Gründen entscheidend: Zum einen sind Finanzausgleichssysteme in Deutschland stark von Einwohnerzahlen abhängig - je mehr Einwohner ein Land hat, desto mehr Fördergelder bekommt es. Zum anderen bedeutet eine immer ältere Gesellschaft neue Investitionen, weil die Infrastruktur umgebaut werden muss. Salopp gesagt: Mehr Altersheime, weniger Kindergärten.

„Deswegen ist ein ganz zentraler Punkt, dass die Menschen hierbleiben”, bekräftigt Philipp Glinka. Das kann bedeuten, dass Menschen, die für ein Studium nach Ostdeutschland kommen, danach bleiben und nicht abwandern. Ein weiterer Punkt: Neue Unternehmen - und damit Arbeitgeber - müssen sich in Ostdeutschland ansiedeln. Das müsse man fördern, vielleicht sogar neue Branchen hier etablieren, schlägt Glinka vor. Wie gut das gelingt wird sich zeigen. Der Finanzexperte bezweifelt jedoch, dass der Osten in den nächsten Jahren aufholen kann: „Meine Schätzung ist, dass es eher zu einer Verstetigung der Lücken kommen wird.”

Ost und West: Zwei Teile oder ein Ganzes?

Sind Ost- und Westdeutschland also doch nicht zusammengewachsen? Philipp Glinka widerspricht: Beide Teile seien mittlerweile stark verknüpft, beispielsweise durch Berufspendler, die die alte Grenze täglich überqueren


Die Wirtschaft denkt Ost und West 30 Jahre nach dem Mauerfall zusammen. Doch langfristig braucht es in Ostdeutschland nachhaltige Investitionen und weniger Abwanderung, um den Anschluss nicht vollends zu verlieren.